Aus alt mach neu! Gemäß diesem Motto geht Designerin Sabine Schmidt vor, wenn sie für ihr kleines Upcycling Label Tragtat alten Teilen neuen Glanz verleiht. Geschickt designed und clever zusammengenäht wird aus einem XXL-Herrenhemd im Handumdrehen ein elegantes Damenkleid. Die Besonderheit dabei? Sabine verwendet keine Meterwaren, sondern ausschließlich Alttextilien aus zweiter Hand.
Es ist schon dunkel, als ich mich an einem kalten Dezemberabend auf den Weg ins Martinsviertel mache. Mein Ziel? Die Altbauwohnung von Modemacherin Sabine Schmidt. Ein Teil ihres Wohnzimmers verwandelt sich regelmäßig in ein kleines Schneideratelier. Doch dass hier wahre Designunikate entstehen, lassen auf den ersten Blick nur ihre Nähmaschinen, ihre beiden Schneiderpuppen und ein Regal voller Nähutensilien vermuten. Bei einer Tasse Tee stelle ich der quirligen Darmstädterin einige Fragen zu ihrem Upcycling Label Tragtat – und sie plaudert aus dem Nähkästchen!
Upcycling ist ja gerade ein totales Trendthema. Was ist Upcycling eigentlich und was bedeutet es für dich ganz persönlich?
„Es bedeutet für mich, Kleidung genau anzuschauen und mir zu überlegen, was daran gut ist und was man daraus machen kann. Manchmal habe ich fast schon das Gefühl, wenn ich lang genug hinschaue, sagt mir das Kleidungsstück, was es werden will. Man sagt ja auch, Upcycling ist, wenn etwas Neues entsteht. Das ist es schon auch für mich. Das ganze Thema hat außerdem etwas mit Respekt zu tun. Ich möchte zum einen die Ressourcen respektieren, aber auch die Arbeit, die dahintersteckt. Hinter jeder Hosentasche und jedem Knopfloch steckt so viel Aufwand. Also es geht auch um eine gewisse Werthaltigkeit von demjenigen, der das mal genäht hat. Upcycling ist echt vielschichtig!“
Wie kamst du auf die Idee, das Upcycling Label Tragtat ins Leben zu rufen?
„Genäht habe ich schon seit meiner Jugend. Und ich war auch schon immer nachhaltig unterwegs. Irgendwann war ich in Berlin bei einer Freundin und dann habe ich gesagt: „Weißt du was? Wenn ich jetzt nach Hause komme, dann kaufe ich mir ein Hemd und fang damit an, es reicht!“ Also bin ich in den nächsten Second-Hand-Laden gegangen, habe mir ein Hemd gekauft und einfach losgelegt. Mit der Zeit bin ich dann in diesem Entwurfsgedanken reingekommen und konnte nicht mehr damit aufhören.“
Woher kommt der Name „Tragtat“ und was kann man sich darunter vorstellen?
„Wenn ich meine selbst genähten Kleider tragen, habe ich immer das Gefühl, diese Kleider gehören zu mir. Dieses Gefühl sollen meine Kleider auch in ihren Trägerinnen auslösen. Für mich steht die Tat des Tragens im Vordergrund. Das ist ein aktiver Prozess, man sollte Mode nicht einfach nur annehmen. Und obendrein fand ich auch das Wortspiel sehr schön. „Trag“ ist eher weich und „Tat“ ist sehr hart. Das ist sehr ambivalent, aber das spiegelt auch in gewisser Weise mich wieder. Ich habe auch was Feminines und was Maskulines – und meine Kleider oftmals auch.“
Stolz deutet Sabine auf das dunkelblaue Jackett, das von ihrer Schneiderpuppe getragen wird. Erst auf den zweiten Blick fällt mir auf, dass das eigentlich mal eine Herrenhose gewesen sein muss. Nur die Hosentaschen, die sich jetzt verkehrtherum auf Oberschenkelhöhe befinden, erinnern noch an die Vergangenheit dieses Kleidungsstücks.
Doch wie gehst du beim Herstellen solcher Unikate eigentlich vor?
„Zuerst nehme ich das Teil und schaue, wie viel Material ich eigentlich habe und was draus werden kann. Vielleicht kommt mir dann direkt schon eine Idee! Oftmals schaue ich auch in meine „Krustelkiste“ und überlege mir, ob noch ein zweiter Stoff dazukommt. Falls ja, dann kommt die Grafik ins Spiel und ich schaue, wie ich beide Stoffe in Einklang bringen kann. Manchmal stöbere ich auch durch alte Zeitschriften und suche dort nach Impulsen oder einem Regelschnitt. Nicht selten passiert es aber auch nur auf meiner Schneiderpuppe, da brauche ich gar keinen Schnitt. Und was ich auch so super am Upcycling finde, ist, dass der Zufall viel entscheidet. Die Materialen geben mir ja meistens schon eine Richtung vor. Das Entwerfen ist einfach wie eine große Spielwiese. Ich habe das Gefühl, das endet überhaupt nicht. Ich habe mich jetzt zwei Sommer lang mit dem Thema „Hemd“ beschäftigt, aber ich glaube, ich könnte mich noch fünf weitere Sommer mit diesem Thema beschäftigen und mir würde permanent noch was Neues einfallen.“
Hast du denn eine bestimmte Stilrichtung, an der du dich orientierst?
„Nein, ich orientiere ich mich nicht an einem bestimmten Modestil. Ich habe schon so viel genäht und habe meinen eigenen Stil gefunden. Viele sagen, dass man an meinen Entwürfen sieht, dass ich Architektin bin. Meine Kleider haben immer etwas mit Grafik zu tun. Ich mag zum Beispiel auch keinen Schmuck, weshalb meine Kleider eher schlicht sind. Und eben diese Ambivalenz zwischen schick und maskulin. Das kennzeichnet mich einfach. Wobei ich schon ab und zu auch durch die Stadt gehe, um zu schauen, welche Schnitte im Moment eigentlich angesagt sind. Trends müssen natürlich dann an mich gehen. Ich suche ja etwas, das mir Spaß macht beim Entwerfen. Den Kunden dazu findet man dann schon, das hat sich ja bisher gezeigt.“
Apropos Kunden: Deine Teile werden in einem Geschäft in Frankfurt verkauft. Wie wird dein Angebot angenommen?
„Genau, das ist ein Geschäft in der Neebstraße. Meine Kleider werden permanent verkauft. Und das kann ich auch verstehen, denn solche Kleider gibt’s ja sonst nicht. Das sind alles Unikate. Und selbst wenn die mal einige Zeit im Laden hängen, wird schon irgendwann die richtige Käuferin kommen. Ich finde das total witzig, wie manche Dinge nach langer Zeit dann doch noch eine Trägerin finden. Ich freu mich da immer richtig, weil ich dann einfach weiß, dass das Kleid jetzt eine neue Geschichte bekommt.”
Dass Sabines Kunstwerke gut ankommen ist kein Wunder, denn jedes ihrer Teile ist individuell und gibt es so kein zweites Mal. Zwischen fünf und zwanzig Stunden verbringt die Hobby-Schneiderin an einem Teil – je nach Material und Schnitt. Ihre Mühe und Arbeit hat sich in den vergangenen Jahren bereits ausgezahlt und wurde mit zwei Designparcours-Preisen belohnt.
Aber jetzt mal Hand aufs Herz: Fällt dir das immer alles total leicht oder gab es schon mal die Situation, dass du an einem Kleidungsstück gescheitert bist?
„Das passiert ganz selten, aber letztes Jahr hatte ich das mal. Es war schon spätnachts und ich kam einfach nicht weiter. Ich war so unzufrieden mit dem Ergebnis, dass ich aufgegeben habe. Manchmal meine ich aber auch nur, dass ich einen vermeintlichen Irrweg gegangen bin und muss es etwas ruhen lassen. Vielleicht wird es am Ende dann nur nicht das, was ich mir vorher gedacht habe. Es gibt nicht nur diese eine Linie. Man muss offen sein für das Ergebnis. Ich mach dann immer so lange weiter, bis ich wirklich zufrieden bin. Ich würde schon sagen, dass ich selbst mein größter Kritiker bin.“
Bist du auch so kritisch, wenn du Kleidung für dich selbst shoppen gehst?
„Ich konnte mich noch nie so recht für Modetrends erfreuen, darum ist das meiste, was ich trage, selbst genäht. Dass ich in die Stadt zum Shoppen gehe, wurde in den letzten Jahren immer weniger. Letztes Jahr habe ich es geschafft, nur zwei neue Teile zu kaufen. Aber das reicht für mich völlig aus, weil ich immer nach etwas suche, das man für alles anziehen kann. Für mich muss es nicht auffällig, bunt oder knallig sein. Ich kaufe sowieso nur nachhaltig ein. In Darmstadt kommt für mich nur noch das Soulid in Frage. Ansonsten kaufe ich viel Second-Hand, vor allem auf Ebay Kleinanzeigen.“
Spielt das Thema Nachhaltigkeit auch außerhalb von Mode eine Rolle in deinem Leben?
„Ja, definitiv! Im Moment bin ich gerade dabei, mein Auto abzuschaffen. Ich fahre immer mit dem Fahrrad zur Arbeit. Seit diesem Sommer habe ich zudem meinen Verpackungsmüll ziemlich reduziert. Außerdem teile ich meinen Wohnraum, das finde ich auch eine schöne Sache. Ich habe zwar dann im Schnitt immer noch viel Wohnraum, aber da ist das Thema des Teilens ein bisschen der Initiator. Ah, und ich war auch auf allen Klimademos in letzter Zeit. Ich bin da auf jeden Fall ein Überzeuger in jeder Hinsicht. Das hat sich eigentlich fast schon ins Extreme durchgezogen.“
Was genau meinst du damit?
„Auch beim Thema Nachhaltigkeit gibt es meiner Meinung nach Grenzen. Jeder muss für sich selbst erfahren, wo seine individuellen Grenzen liegen. Man muss ausloten, was einem am Ende wirklich wichtig ist. Es darf nicht so weit gehen, dass man seine eigenen Grenzen nicht mehr erkennt oder man sich Qualitäten nimmt. Das muss jeder für sich selbst ausbalancieren. Unterm Strich denkt man immer: „Oh Gott, ich allein rette die Welt auch nicht“, aber ich kann es einfach nicht mehr lassen. Ich muss nachhaltig leben, anders kann ich es nicht mehr mit mir vereinbaren.“
Hast du schonmal daran gedacht, dein Wissen und Können weiterzugeben?
„Ja, ich hatte mal überlegt, Tutorials zu machen, aber das ist leider sehr aufwändig. Upcycling kann jeder machen! Man muss nicht immer in die Stadt rennen und sich billige Kleidung kaufen. Man kann sich auch einfach was Eigenes machen. Oftmals braucht es nur etwas Mut, Kleidungsstücke mal auseinanderzunehmen. Und das sag ich auch immer jedem, der gerne damit anfangen möchte und Angst hat. Macht euch mit dem Nähen nicht so verrückt. Das ist die Technik, das kann man lernen. Man muss sich da locker machen und einfach loslegen mit dem Entwerfen.“
Selbst in einer alten, langweiligen Strickjacke aus Großvaters Kleiderschrank sieht Sabine das gewisse Etwas. Sie legt besonders viel Wert auf hochwertige Materialien. Auf dem Sofa neben ihrem Nähtisch liegt bereits eine große Auswahl an Wollpullis, die nur darauf wartet, von Sabine neues Leben eingehaucht zu bekommen.
Ich finde es gut, dass man alte Kleidung wieder schick macht. Ich habe selber auch viele Strickjacken, die ich nicht mehr anziehe. Ich finde es für die Nachhaltigkeit auch gut. So habe ich selbst alt Lampenschirme überziehen lassen. Die stehen nun in meiner Wohnung und ich musste sie nicht wegwerfen.